WKreativ, Entdecken Sie Kurzgeschichten und Musik von Wolfgang Kraus Die Entscheidung

Die Entscheidung

(aus meinem Buch "Lebenslied")

Jetzt, so kurz vor ihrem letzten Schritt, stiegen ihr doch Tränen in die Augen - Tränen des Schmerzes und Tränen der Unsicherheit. Sie hatte eben noch geprüft, ob der Strick auch fest genug gebunden war und ihr Gewicht würde tragen können, nun stand sie auf dem Tisch, die Schlinge ihres Todes in den Händen, bereit, ihrem jungen Leben ein Ende zu setzen. Die dazu nötigen Vorbereitungen hatte sie mit seltsamer Leichtigkeit verrichtet, beinahe automatisch, nun aber, vor diesem letzten, unumkehrbaren Schritt, zögerte sie doch. War das, was sie vorhatte, wirklich richtig? Gab es keine andere Lösung? Und was würde mit ihr geschehen? Sie hatte Berichte gelesen, in denen Menschen, die dem Tod entkommen waren, von einer Art Film erzählt hatten, einem Film ihres Lebens. Gab es den wirklich? Und was würde er ihr zeigen? Den Vater, der sie und ihre Mutter so früh verlassen hatte? Die Mutter, die sie zwar materiell versorgt, ihr aber jede Zärtlichkeit verwehrt und sich mit all den Sorgen ihrer Tochter niemals belastet hatte? Den Typ, der ihren Reizen zwar verfallen war, aber nicht bereit, Verantwortung als Vater zu übernehmen? Den Chef, der sie gekündigt hatte, kurz bevor sie schwanger geworden war?

Ein Kind im Bauch, für das sie nicht sorgen konnte, keine Arbeit, kein Zuhause – das alles war zu viel für sie. Gerade einmal 17 Jahre war sie alt geworden, und schon steckte sie hoffnungslos fest. Nein, es gab keine andere Lösung. Die Tränen in ihrem Gesicht waren auch Tränen der Erleichterung, bald würde alles vorbei sein. Sie strich mit der freien Hand sachte über ihren Bauch.

„Verzeih mir bitte, aber ich kann nicht anders!“, sagte sie zu ihrem ungeborenen Kind, legte die Schlinge um ihren Hals, seufzte noch einmal und sprang vom Tisch. Ein kurzer, stechender Schmerz, dann wurde es dunkel um sie.

Mit einem Schlag war alles leicht, schwerelos. Sie war sicher, dass sie richtiger nicht hätte handeln können und genoss diesen Moment der Körperlosigkeit in vollen Zügen. Mehr als ein Moment war es allerdings auch nicht, denn bald hörte sie Rufe, klagend, voll Enttäuschung und Sehnsucht:

„Mama, Mama!“

Sie erschrak. Niemals hätte sie gedacht, dass ihr ungeborenes Kind, von dem sie nicht einmal wusste ob Mädchen oder Bub, den Verlust seiner selbst schon würde wahrnehmen können. Sie hatte gemordet! Die Rufe wurden leiser, entfernten sich, und nach einem Augenblick totaler Stille hörte sie plötzlich eine majestätische Stimme sagen:

„Du hast entschieden.“

Dann war sie mit sich allein, umfangen von unendlicher Stille und Dunkelheit. Nur diese Worte hallten noch nach in ihr: Ja, sie hatte entschieden. Und richtig! Dieses Leben hatte ja offenbar keinen Platz für sie gehabt.

Nach einer Weile schien ihr die Dunkelheit nicht mehr ganz so schwer, sie meinte, einen Schimmer zu erahnen. Das Bild wurde größer und schärfer und bald erkannte sie erste Details: Das war ja sie selbst! Ein Baby noch, in den Armen ihres Vaters und über sich sein liebevolles Lächeln.

Der Film! Es gab ihn wirklich!

Es folgten einige Szenen ihrer frühen Kindheit, die durchaus von Liebe und Familienglück geprägt waren, an die sie sich heute nur nicht mehr erinnern konnte. Vielleicht waren sie auch verschüttet worden von all dem Übel danach?

Und da war auch schon ihr sechster Geburtstag, es wurde kurz dunkel, weil Papa sie mit verbundenen Augen in den Garten führte, dort nahm er die Binde ab und sie blickte, fassungslos wie damals, auf ihr erstes Fahrrad. Ein lange gehegter Wunsch war Wirklichkeit geworden und sie wollte es sofort ihrer Mama zeigen. Die war zwar nachgekommen, teilte aber ihre Begeisterung nicht, sondern sagte lapidar zu Papa:

„Hast du das ausgesucht oder deine neue Flamme?“

Dann stritten die beiden mit Worten, die sie bis dahin noch nie gehört hatte, mit dem Ergebnis, dass Vater fort ging Sie hatte ihn so geliebt! Konnte es wirklich sein, dass er sie und Mama wegen einer anderen Frau verließ? Das hatte sie ihm nie verziehen.

Die folgenden Szenen irritierten sie ein wenig, weil sie Bilder sah, die sie niemals gesehen hatte oder sehen hätte können. Sie sah Papa in seinem neuen Leben, einsam, verletzt, aber kämpferisch. Da war keine andere Frau, dafür aber eine Vielzahl an Gerichtsterminen, in denen er seine Unschuld beteuerte, was ihm aber niemand glaubte. Es war Mama, die all seine Versuche zunichte machte, ihr, seiner Tochter, seinem geliebten Kind, nahe zu kommen, den Irrtum aufzuklären und das Vertrauen von einst wieder herzustellen. Sie aber hatte immer Mamas Version vertraut, nie selbst nachgeforscht. Was für ein Fehler! In der Sekunde wollte sie zu Papa laufen und sich mit ihm versöhnen – aber sie hatte ja keinen Körper mehr.

Der Film lief unbeirrt weiter, zeigte ihr die Jugendjahre, geprägt vom schleichend schlechter werdenden Verhältnis zu Mama, die ihrerseits hinter dem Rücken des Mädchens wechselnde Männerbekanntschaften pflegte und der außerdem die Seelenverwandtschaft ihres nunmehrigen Exmannes zur gemeinsamen Tochter ein Dorn im Auge war, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen galt.

Dann – endlich! – er: Der attraktive Sänger einer aufstrebenden lokalen Popgruppe, hinter dem alle Mädchen her waren, den aber sie bekam! Es folgten Wochen voller Glück: Sie war kaum zu Hause, zog mit ihm von Party zu Party, stets stand er im Mittelpunkt und sie mit ihm. Mit fünfzehn der erste Sex, und dann immer wieder, auf immer neue Arten und an immer neuen Orten. Was für eine aufregende Zeit! Einzig ihre schulische Leistung ließ massiv nach bis sie abbrechen und sich einen Job suchen musste. Das war aber nicht so schlimm, denn wenn die Band bald so richtig erfolgreich wäre, so versprach er ihr, würde er für sie sorgen. Dann wären sie für immer frei!

Kurz vor ihrem siebzehnten Geburtstag bekam sie ganz seltsame Bauchschmerzen und von ihrem Arzt die freudige Diagnose. Nur ihr Freund wollte davon nichts wissen:

„Das passt jetzt überhaupt nicht in mein Leben! Warum hast du nicht aufgepasst? So wie alle anderen Gören vor der Bühne hast du gerufen, dass du ein Kind von mir willst. Jetzt hast du eines. Das ist ja, was du wolltest, aber belästige nicht mich damit!“

Wieder stürzte ihre Welt in sich zusammen und da dachte sie zum ersten Mal an Selbstmord.

Wenig später sah sie sich ihrer Mutter von ihrer neuen Situation erzählen, was diese nur knapp quittierte:

„Ich habe dir gleich gesagt, dass der nichts taugt. Aber du warst ja gescheiter und das hast du jetzt davon. Hier kannst du jedenfalls nicht leben mit einem Kind, da musst du dir etwas Eigenes suchen. Raus jetzt!“

Jetzt war es fix! Und das umso mehr, als sie niemanden um Hilfe fragen konnte, denn zu sehr waren ihre Freundschaften verkümmert in der Zeit, die sie ausschließlich diesem Nichtsnutz gewidmet hatte.

Sie sah, wie sie den Strick besorgte, in die Straßenbahn einstieg und sich neben einen Burschen setzte, ohne ihn auch nur im Geringsten zu beachten, schließlich hatte sie jetzt andere Sorgen. Er aber sprach sie direkt an:

„Du siehst traurig aus!“, sagte er, aber es klang mehr wie eine Frage. Und es war der simpelste Anmachspruch aller Zeiten. Sie war ohne ihn anzusehen aufgestanden und zur Tür gestapft.

Hier aber stimmte etwas nicht mit dem Film! Sie konnte deutlich sehen, wie sie den jungen Mann, er mochte ein paar Jahre älter sein als sie selbst, irritiert anschaute, er seine Frage wiederholte und sie ihm, dem Unbekannten, aus unerfindlichen Gründen ihr Herz ausschüttete und ihm ihre ganze Lebensgeschichte erzählte.

Das hatte sie aber gar nicht getan! Sie war ausgestiegen!

Er hörte verständnisvoll zu und bot ihr an, einige Zeit bei ihm zu wohnen, bis sie etwas Besseres hätte. Er würde sie garantiert nicht bedrängen, sie müsse sich keine Sorgen machen, versprach er mit einem sympathischen Lachen. Sie willigte kurz entschlossen ein, sah sich ins Haus laufen, das ja nicht mehr ihr Zuhause war, aber nicht, um ihrem Leben ein Ende zu setzen, sondern einfach um ihre Sachen zu holen.

Sah sie ihr Leben oder wie es hätte sein sollen?

Fassungslos verfolgte sie das Zusammenleben mit David, der sich als liebevoller Kamerad entpuppte, ihr jede Zeit der Welt ließ, sich neu zu orientieren, sie dabei nach Kräften unterstützte und ihr auch die eine oder andere Spinnerei nachsah. So entwickelte sich langsam eine echte Beziehung. Über einen Bekannten bei einer Behörde fand David ihren Vater und stellte den Kontakt wieder her. Mit ihrer Mutter hatte sie nun gebrochen, aber Papa war bald wieder ganz der alte und wurde eine wichtige Stütze. Bei der Geburt des Kindes war David dabei, und er behandelte den kleinen Jakob wie sein eigenes. Ein Jahr später wurde geheiratet, es gelang ihr, beruflich Fuß zu fassen und auch Jakob entwickelte sich prächtig, studierte und leistete den entscheidenden Beitrag zu einem Medikament gegen Aids.

Hätte ihr Leben wirklich so verlaufen können.

Oder sollen?

„Du hast entschieden!“, hörte sie diese Stimme wieder, dann wurde es schwarz um sie und still.

Aktuelle Termine

Donnerstag, 16. Oktober 2025 um 19:00

ARTS-Lesung gemeinsam mit Elisabeth Schöffl-Pöll am Brandlhof in Radlbrunn bei Ziersdorf


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